Der ganz normale Wahnsinn oder ein Morgen in unserem Sturmleben....
"Jeden Tag um spätestens 05.20 Uhr klingelt der Wecker.
Er summt und summt. Erbarmunglos. Bis ich aufstehe.
Oder ich stelle ihn vorher ab. Den Wecker. Weil ich ihn gar nicht brauche. Denn unserer Tochter fehlt aufgrund des Angelman-Syndroms das Schlafhormon und sie kann genauso gut bereits schon lange
auf sein um diese Zeit. Auf und hellwach. Voller Tatendrang, hyperaktiv und kaum zu bändigen. Und ich mit ihr. Denn selber unterhalten oder im Bett liegenbleiben, das funktioniert nicht. Zu
schwer ist ihre geistige Behinderung, alsdass sie das verstehen würde.
Sie poltert dann und ruft laut "ä", "ä", "ä" bis ich sie aus dem grossen Gitter,- und Pflegebett nehme, in dem sie zusätzlich gesichert ist, da sie ansonsten in der Nacht herumwandern oder
herumklettern würde. Sie bestimmt meinen Schlafrhythmus. Unseren Rhythmus. Tag und Nacht. Seit bald neun Jahren. Sie ruft mit "ä", denn sie kann nicht sprechen. Kein Wort. Kein einziges Wort. Sie
kann weder nicken noch den Kopf schütteln. Für mich das allerschlimmste. Probiert mal eine Stunde lang nichts zu reden. Weder zu nicken noch den Kopf zu schütteln. Noch Gesten zu machen. Auch das
ist ihr geistig nicht möglich. Unvorstellbar. Ich weiss. Und doch ist das unser Alltag. Ihr Alltag. Seit bald 9 Jahren lebt sie damit. Und wir auch.
Ich hab nun Zeit bis 07.45 Uhr. Denn dann kommt das Tixi. Das Taxi für Menschen mit einer Behinderung, welches Julia zur Schule bringt. Denn obwohl sie bald 9 wird, kann sie weder selbstständig
zur Schule noch auf den Bus gehen. Sie ist auf den Transport angewiesen und wir auch. Denn nur diese Möglichkeit ermöglicht mir, unseren anderen Sohn am Morgen nicht alleine zu lassen.
In diesen Stunden am Morgen ziehe ich sie aus. Gehe mit ihr aufs WC. Warte und hoffe, dass es klappt. Dass die Therapien anschlagen und das WC Training nutzt. Wasche sie. Wickle und pflege sie.
Creme sie ein und ziehe sie an. Alles dies oft mit Gegenwehr oder sicher ohne Mithilfe. Sie wiegt 30 Kilo und ist 135cm gross. Wenn ich sie tragen muss, weil sie nicht laufen will oder durch die
Schlafmedikamnte noch zu unsicher ist auf den Beinen, schleppe ich sie wie einen nassen Sack. Denn ihre Körperspannung lässt nicht zu, dass sie sich an mir festhält oder klammert. Sondern sie
hängt in meinen Armen. Schwer und gross. Und stark. Auch dann wenn sie in einen andere Richtung will wie ich, brauche ich den vollen Körpereinsatz um sie zu führen.
Wenn ich sie angezogen habe, laufe ich mit ihr langsam die Treppe runter. Unendlich froh, dass sie das schafft, denn runtertragen ist hier durch ihre ruckartigen Bewegungen und ihr
unvorhersehbares Ausschlagen zu gefährlich. Dann binde ich sie auf den Therapiestuhl am Küchentisch fest. Denn ohne Gurten bleibt sie nur schwer sitzen. Zu aktiv ist ihr Körper. Sie würde gleich
wieder aufstehen. Ich mache ihr die Haare (das tönt einfacher als es ist...) und und ziehe ihr das Lätzli an. Gebe ihr das Birchermüesli und die Epilepsiemedikamente (ja genau, Epi hat sie auch
noch, als wäre alles andere nicht schon genug...). Nach dem zMorgen lasse ich sie ganz kurz angebunden sitzen, immer im Blick, ob sie samt Therapiestuhl versucht herumzuhüfen um vorwärts zu
kommen und mache alles bereit für unseren Sohn, der bald aufsteht und dann sein ganzes Morgenprogramm alleine machen muss. Denn ich habe keine Zeit für ihn. Er muss funktionieren am Morgen. Seit
Jahren. Und das macht er einfach unglaublich toll und voller Liebe und Verständnis für seine Schwester. Er ist es auch, der mir danach hilft, ihr die Zähne zu putzen, wenn sie nicht hinhalten
will, er löst mich für Sekunden ab beim erneuten WC Gang mit ihr, damit ich ihm das Znüniböxli noch richten kann. Schaut, dass sie nicht einfach aufsteht und hinfällt, da sie etwas anderes im
Kopf hat.
Es geht weiter mit dem ständigen Blick zur Uhr. Das Tixi kommt bald. Die Schuhe müssen noch angezogen werden. Probiert das mal einem Menschen, der keinen Sinn darin sieht, die Schuhe sofort
wieder abstreift oder den Fuss nicht streckt... Ich bin immer im T-Shirt, wenn unsere Tochter zu Hause ist. Jetzt wisst ihr auch wieso. Ich bin körperlich so gefordert. Bin bachnass bis ich ihr
Schuhe, Mütze (welche immer noch wie bei einem Baby angebunden werden muss, da auch diese sofort fliegt) und Jacke angezogen habe. Die Handschuhe gebe ich für einmal in der Tasche mit. Es hat
keinen Sinn. Auch die werden sofort wieder ausgezogen.
Noch schnell letzte Notizen ins Kontaktheft, da sie nicht erzählen kann wie es zu Hause ging und dies der Austausch ist zwischen dem Elternhaus und der Schule und schon läutet der Tixifahrer. Ich
lade Julia ins Auto ein, ihr Bruder und ich geben ihr ein Küssli und wünschen ihr einen schönen Tag. Sie strahlt. Das tut meinem Mamiherz gut. Sie freut sich auf die Schule. Und ich mich auf die
Entlastung. Auf die Zeit mit unserem Sohn am Mittag. Darauf, dass auch er dann Zeit und Raum hat für sich. Wir Zeit haben für uns. Freue mich auf den Abend. Denn mein Mann wird dann hoffentlich
da sein, wenn sie nach Hause kommt. Er geht ganz früh arbeiten, damit er am Abend unterstützen kann. Denn der Abend ist nicht anders als der Morgen. Unendlich herausfordernd und intensiv. Der
ganz normale Wahnsinn eben.
Unser Sturmleben mit Julia.
Tagtäglich unter der Woche.
Rund um die Uhr am Wochenende."
Kommentar schreiben
Doris (Freitag, 29 Januar 2016 21:43)
Liebe Melanie und Familie
Unvorstellbar was ihr seit Jahren leistet - viel Kraft und immer wieder helfende Hände wünsch ich euch von Herzen.