Sitze im Zug, meine Gedanken schwirren im Kopf herum, fast ebenso schnell wie die Bäume und Felder vorbeiziehen.
Bin auf dem Weg zu einer Spezialistin. Für Julia.
Mal wieder.
Obwohl soviel zu tun wäre zu Hause. Obwohl Yanis so enttäuscht war, dass ich nicht zu Hause bin am Mittag.
Mit einem schweren Rucksack bin ich bepackt. Voller Hoffnung etwas zu lernen, dass wir bei Julia mit Erfolg anwenden können, aber auch einer dicken Schutzmauer gerüstet gegen die Enttäuschung,
falls es doch nicht klappt.
Seit Monaten, also eigentlich sind es ja schon Jahre, machen wir mit Julia WC Training. Ihr müsste euch vorstellen, das ist in unserem Fall so erfolgreich wie am Anfang mit einem Kleinkind. Im
Unterschied, dass Julia 133cm gross ist und mehr als 30 Kilo wiegt und nicht selber aufs WC geht. Aber das Windelnwechseln ist eben auch unendlich streng und zieht meistens noch eine Wasch- oder
Duschaktion mit sich, was wiederum unvorstellbar viel Zeit, Kraft und Geduld braucht, da Julia nicht mithilft. Auch für Julias Selbstbestimmung wünschen wir ihr sosehr, dass sie es schafft. Wir
es mit ihr schaffen, dass sie wenigstens am Tag trocken wird.
Und während die Häuser an mir vorbeiziehen und ich die Zeitpläne des Toilettentrainings studiere, wird mir mal wieder so richtig bewusst, was wir tagtäglich leisten. 7-8 mal im Tag üben wir mit
Julia auf dem WC, sitzen neben ihr, massieren ihren Bauch. Oft 20-40 Minuten bis wir mit grosser Freude den Erfolg feiern, wenn es dann klappt. Aber auch versuchen nicht allzu enttäuscht und
frustriert zu sein, wenn es nicht geht und dann Minuten später die Windel dann doch voll ist, weil wir zu früh aufgaben. Weil es ja auch noch so viel anderes zu tun gibt, da Julia soviel Zeit und
Kraft beansprucht während des ganzen Tages.
Sich weder selber anziehen noch Gefahren erkennen kann.
Sich wehrt und ihren starken Willen zeigt, ohne Sinn für Konsequenzen oder der Möglichkeit einer Diskussion.
Nicht mal schnell die Kinder eine kurze Zeit allein gelassen werden können, da wir die grosse Verantwortung Yanis weder geben wollen noch können. Obwohl er schon 10 Jahre alt ist. Aber auch ihn
müssen wir schützen.
Denn drei Sekunden wegschauen, können drei Sekunden zu viel sein.
Die Seife erwischt und unter dem Wasserhahn zu Schaumbergen verwandelt... - das Kinderüberraschungsei aus der Schublade geholt und samt Aluschale in den Mund gestopft und verbissen wurde, bis nur
noch das gelbe Plastikteil im Mund knackt... - das Cheminée ausgeräumt und die Kohle auf dem ganzen Boden verteilt ist... - Julia mit dem laufenden Gartenschlauch ins Haus reinkommt... - sie die
Murmeln aus dem Fenster geworfen hat und versucht ihnen nachzusteigen... - die erwischte Mango oder Banane samt Schale gegessen wird... - Alles Sachen die man in drei Sekunden schafft.
Soviel Nerven brauchts, wenn die mit Mühe zum dritten mal angezogenen Schuhe wiederholt am Rollstuhlfussbrett abgestreift werden, da sie auch im Winter am liebsten Barfuss gehen will... - sich
weder Handschuhe noch Kappe anziehen lässt, obwohl es kalt ist und sie friert... - das eine Bein mit der angezogenen Strumpfhose genau dann wieder weggezogen wird, wenn das andere Bein auch
endlich in der Strumpfhose steckt... Socken aber keine Minute an den Füssen bleiben und deshalb Strumpfhosen doch praktischer sind... - wenn ihre Lachanfälle vor Überreizung nicht mehr
aufhören... - wenn sie um 3 Uhr hellwach ist und alle wecken will, obwohl sie doch erst gegen halb elf einschlief... Sie "ä" ruft und "ä" ruft und "ä" ruft und ich sie einfach nicht verstehe... -
Dann brauchts Nerven aus Stahl und eine riesen Portion Geduld und Ausdauer.
Mal wieder.
Wenn ich gefragt werde, wie wir das schaffen, frage ich mich das auch oft.
Die einzige Antwort darauf ist wohl, die unendlich grosse Liebe die wir für unsere Julia empfinden. Wenn sie uns festhält, uns umarmt, uns Küssli gibt, uns mit "äääää" zu sagen versucht, dass sie
uns gerne hat. Das ist es, was uns dieses Schicksal meistern lässt. Es fühlt sich manchmal ein wenig an wie Liebeskummer. Das Herz das so schwer ist, sosehr schmerzt vor Liebe. Mein Herz, welches
fast platzt, weil die Liebe so gross ist. So voller Mitgefühl für unser Mädchen, das sich nicht so entwickeln darf, wie wir es uns gewünscht haben.
Aber jetzt ist es nunmal so. Anders halt.
Die Liebe macht uns stark. Lässt uns weitermachen.
Und nach vorne schauen.
Auch wenn wir wissen, dass es nie aufhört.
Weder die Liebe noch unsere Aufgabe.
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